Anonymus Casmiriensis (10.Jhd.): Mokṣopāya
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Einführung
Der Mokṣopāya („Weg zur Befreiung“), Werk im Umfang von 30.000 Doppelversen
eines kaschmirischen Anonymus aus der Mitte des 10. Jh.s, begründet
auf der Basis philosophisch unikaler Ideen einen in
der indischen Geistesgeschichte einzigartigen Welterklärungsentwurf, der ohne
Berufung auf traditionelle Autoritäten entwickelt wurde.
Vor Entdeckung und Nutzbarmachung (1994 ff) der kaschmirischen
Rezension, in der die ursprüngliche Werkfassung sich
verbirgt, wurde dieses nach Form und Inhalt einzigartige
philosophische Literaturwerk in Indien und Europa
ausschließlich in einer späten, durch mehrere
Redaktionsschübe tendenziös veränderten
Vulgata-Rezension (‛Yogavāsiṣṭha’)
rezipiert. Durch strukturelle und begriffliche Modifizierungen
wurde dieser Version der Anschein eines Offenbarungswerkes verliehen.
Derart in althergebrachte Mythen und Traditionen eingebettet,
entfaltete das Yogavāsiṣṭha in Indien eine bis heute andauernde
Wirkungsgeschichte. Doch war es u.a. der autoritative Charakter
von ‛Offenbarungen’, gegen den der Autor – als indischer
‛Frühaufklärer’ insofern erfolglos geblieben –
sich mit Vehemenz gewandt hatte. Unkonventionelle Standpunkte
wie dieser wurden aus der pan-indischen
Yogavāsiṣṭha-Rezeption – ebenso wie die menschliche
Autorschaft des Werkes – von Entsager-Traditionen des
Advaitavedānta (saṃnyāsin) sowie von Exponenten gläubiger
Gottesfrömmigkeit (Rāma-Bhakti) gewollt verdrängt.
Weltanschaulich über sekundäre Mythisierung
entsprechend umgearbeitet und adaptiert, vereinnahmten sie
das Werk schließlich für eigene Traditionen. Die formale
und geistige Gestalt des Mokṣopāya selbst wurde dadurch aber aus
der indischen Wahrnehmung völlig ausgeblendet und
geriet allmählich in Vergessenheit. Der Text ist in einem
Sprachstil verfaßt, der je nach Anlaß zwischen
höfisch-literarischem und philosophisch-wissenschaftlichem
Sanskrit wechselt. Aufgrund des Stils und der Neuschöpfung
narrativer, parabolisch angewandter Stoffe ist er als Literatur
(kāvya) zu charakterisieren, dem Inhalt nach als
philosophische Welterklärung, vom Anliegen her aber als
‛Soteriologie der Selbstbefreiung’ aus dem Daseinswandel.
Das Werk zeigt einen ‛erleuchtungsdidaktisch’
strukturierten Aufbau, der einem sich graduell vertiefenden
Verständnishorizont des Schülers Rechnung trägt.
Dieses unter den Sprach- und Texttrümmern des Yogavāsiṣṭha
verschüttete Monument indischer Philosophie und
Literatur soll nun zum ersten Mal in seinem Originalwortlaut aus den
Handschriften der kaschmirischen Rezension wiedergewonnen, und
dabei ein unikaler philosophischer Kopf und geistreicher
Poet für die Geistesgeschichte gerettet werden, der im 10.
Jh. Raum- und Zeitvorstellungen als subjektiv und nur relativ zur
eigenen Wahrnehmung bestimmbar definiert hat. Mit Hilfe einer
historisch-kritischen Gesamtedition, die mittels des
wiederhergestellten Wortlauts auch die verlorengegangenen Ideen
und sprachlichen Idiosynkrasien des Autors rekonstruiert,
werden diese sich in ihren inneren Zusammenhängen
erschließen, deuten und sodann in eine
Universalgeschichte der philosophischen Ideen und der Literatur
einordnen lassen. Darüber hinaus sind neue Erkenntnisse vor
allem auch zu erwarten für: Linguistik (reiches und
datierbares Material zum regionalen kaschmirischen
Sanskrit, Wortschatz, Semantik, Wortbildung und
Syntax), Philosophiegeschichte,
Religionssoziologie (vita activa contra
vita contemplativa), Universalgeschichte
(indischer Erlösungsrationalismus,
Ansätze zu Aufklärungsideen), Literatur
(stoffliche Neuschöpfungen), Kultur- und
Realienkunde des mittelalterlichen Kaschmir.
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