Historiographie und Geisteskultur Kaschmirs

Arbeitsstelle der
Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz
an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg



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Primärquellen zur mittelalterlichen Geschichte Kaschmirs, AD 1150-1472

Die während der mittelalterlichen Epoche Kaschmirs geschaffenen historiographischen Primärquellen (Rājataraṅgiṇī) in Sanskrit liegen verläßlich ediert nur in Teilen vor (Kalhaṇa RT 1892).
Jonarāja, Śrīvara und Śuka wurden von Ś. Kaul nach mehreren Handschriften und älteren Editionen1 herausgegeben (ŚRT 1966, ŚuRT 1966, JRT & Ps-JRT 1967)2. Die von ihm als kritisch in den Text gesetzten Varianten sind jedoch in zahllosen Fällen inakzeptabel, so daß die Herstellung einer kritischen Edition nach modernen Methoden unbedingt geboten ist.

Absolut datierbare Berichtszeiten (alle Angaben nach A.D.), fett gedruckt der Forschungsgegenstand des Projektes:
    1) Kalhaṇa: ca. 625 – 1149/50 [RT] (Durlabhavardhana bis Jayasiṃha)
    2) Jonarāja: 1149/50 –1458/59 [JRT] (Jayasiṃha bis Zayn al-‘Ābi­­dīn)
    2a) Pseudo-Jonarāja: ca. 1413 – ca. 1588 [Ps-JRT, 1561-1588, enthalten in JRT] (Sikandar bis Akbar)
    3a) Śrīvara (Zayna-Taraṅgiṇī): 1458/59 – 1472 [ŚZT] (Zayn al-‘Ābi­­dīn bis Ḥaydar Šāh)
    3b) Śrīvara (Rāja-Taraṅgiṇī): 1472–1486 [ŚRT] (Ḥasan Šāh bis Muḥammad Šāh)
    4) Śuka und anonyme Fortsetzer: 1486 –1586 [ŚuRT] (Fatḥ Šāh bis Akbar)
Nr. 1) liegt durch M. A. Stein zuverlässig ediert vor, auf Vishva Bandhus unkritische (Kölver 1971)3 Ausgabe (Hoshiarpur 1963-1965) zurückzugreifen gibt es keinen Anlaß mehr. Allerdings wurden die von E. Hultzsch (1889, 1890, 1911, 1913, 1915) aus zusätzlichen handschriftlichen Materialien zusammengetragenen, wichtigen Varianten und ergänzenden Textteile von der Forschung nie für Datierungsfragen herangezogen und − mit Ausnahme von Kölver 1971 − auch sonst nicht rezipiert. Die Übersetzung durch Stein (1900) darf als einigermaßen, keineswegs absolut, verläßlich gelten (Hultzsch; Salomon 1987). Dies trifft auch für Steins Berechnungen zu, die sich stets nur auf Jahresangaben beziehen (ein Beispiel unten). Nr. 2-4) liegen durch Kaul (1966, 1967) nur nominell kritisch ediert vor. Das kritische Potential muß aus Kauls Variantenapparat entwickelt werden. Die englische Übersetzung von Nr. 2), 3), und 4) durch Dutt (1898) beruht auf der bis zur völligen Unbrauchbarkeit (Kölver 1971) und Namensunkenntlichkeit verderbten Editio princeps (Calcutta 1835), und verdient auch aufgrund ihrer philologischen Defizite eigentlich keinen Platz mehr in der wissenschaftlichen Literatur. Dhar (1994), der Nr. 3) zwar neu auf der Basis von Kaul 1966 – aber deshalb nicht treuer – übersetzt, erreicht nicht ansatzweise die Standards, die man an wissenschaftliche Übersetzungen anlegen muß. Dhars teilweise völlig haltlosen Fehlinterpretationen lassen vom ursprünglich Gemeinten häufig nichts mehr erkennen. Ein charakteristisches Beispiel mag genügen: Die Verbalform (Intensivbildung) von √nṛt („tanzen“) narīnarti (ŚZT 2.2c) wird erklärt als: „Literally means a woman [narī!, WS], but here it will suggest Śakti ...“. Zudem ändert Dhar seinen auf Kaul 1966 beruhenden Text offenbar nach Belieben bzw. nach nicht näher benannten Gründen.
Nr. 2a) wurde überhaupt noch nie in eine westliche Wissenschaftssprache übersetzt. Ferner gelten die im Zusammenhang mit der Qualität der Übersetzungen erwähnten Defizite und Unsicherheiten in noch höherem Maße für die bzgl. Nr. 2–4 angestellten Umrechnungen der Datierungen nach lokalem Kalender (Laukika bzw. Saptarṣi Saṃvat). Bei der Konsultation für historische und Datierungs-Fragen bieten die sekundären Arbeiten ebenfalls wenig Gewähr für Verläßlichkeit.
Erheblich solider sind die kommentierten Hindī-Übersetzungen von R. Singh aus den 70er Jahren gearbeitet,4 wobei das positive Urteil vor allem die Ausleuchtung historischer Hintergründe sowie die Identifizierung persischer Personennamen und Ortsnamen betrifft.
Moderne Geschichtsdarstellungen rekurrieren für Fragestellungen zum kaschmirischen Raum, und besonders, wenn es sich um die Behandlung der islamischen Epoche Kaschmirs handelt, nahezu ausnahmslos auf Angaben in der persischsprachigen Nebenüberlieferung. Obwohl Majumdar bereits 1956 (bes. S. 11f) mit Nachdruck auf den Wert der Sanskrit-Chroniken für die Geschichte des muslimischen Kaschmir hingewiesen hatte, ziehen Autoren von Standardwerken wie z.B. Habib / Nizami (1993) immer noch Dutts englische Übersetzung − und zwar nur zum Zwecke des Verweises auf die entsprechende Zählung des Sanskritoriginals − heran, greifen für die eigentliche Darstellung aber vorwiegend auf das unedierte, persische Bahāristān-i Šāhī (A.D. 1614) zurück (Habib / Nizami 1993: p. 737, FN 7 und 8). Diese Vorgehensweise bildet im Grunde das Paradigma für praktisch alle historischen Darstellungen der mittelalterlichen Geschichte Kaschmirs ab, wo neben persischsprachigen Kaschmir-Chroniken auch umfassendere Mogul-Historiographien wie etwa Nizām ad-Dīn Aḥ­mads Ṭabaqāt-i Akbarī (A.D. 1592/93) oder Firištas Gulšan-i Ibrāhīmī (A.D. 1606/07) herangezogen werden. Als prominente Beispiele wären etwa zu nennen Khan (2004) und Hasan (2002). Auf deren, auf bloße Nebenüberlieferung gestützte Sekundärarbeiten wiederum greifen schließlich Handbücher, Nachschlage- und allgemeine Geschichtswerke zurück, von Schwartzberg (1992) bis − beispielsweise − Kulke / Rothermund (1998). Doch ist der gesamten persischsprachigen Nebenüberlieferung gemeinsam, daß sie von den Sanskrit-Chroniken des Jonarāja und Śrīvara direkt oder indirekt abhängig ist, diese selektiv ausbeutet und dabei stark verkürzt wiedergibt, vor allem aber tut sie das − wie von Conermann (2002: 426) für die Mogul-Historiographie gezeigt − anders als die Sanskrit-Historiographen in idealisiert-legitimatorischer und damit tendenziöser Behandlung. Anläßlich einer Untersuchung des Rezeptionsschemas der Geschichtswissenschaft ließ sich zeigen (Slaje 2006), in wie vielfacher Brechung die Geschichtsdaten Kaschmirs in unserer wissenschaftlichen Literatur erscheinen. Dabei gilt für die Datierungen von Hindu-Königen, Sulṭānen und geschichtlichen Ereignissen, daß sie von den persischen Quellen nicht nur eklektisch wiedergegeben werden, sondern zusätzlich den oben bereits genannten Umrechungsfehlern von lunisolaren Laukika- in lunare Hijrajahre unterliegen. Der Rückgriff auf die sanskritischen Primärquellen, deren chronologische Zuverlässigkeit teilweise von numismatischer und epigraphischer Evidenz gestützt wird und als grundsätzlich gesichert gelten kann, wäre wissenschaftlich die einzig zulässige Methode.

Darüber hinaus stellen die Sanskrit-Historiographen eine einzigartige Fundgrube dar für kulturhistorische Fragestellungen unterschiedlichster Art, wie wir sie sonst nirgendwo in vergleichbarer Dichte und Zuverlässigkeit vorfinden: Charakterbilder von Herrschergestalten und ihren Familien, Zeit und genaue Umstände des Umbruchs zur politischen Vorherrschaft des Islam und seiner begleitenden Ereignisse, Identitätsabgrenzungen zwischen Hindus und Muslimen, religiöse Verfolgungen, Ikonoklasmus, Versuch der Abschaffung des Kastenwesens, unterschiedliche Bestattungsgebräuche und ihre Kritik, Förderungen und Verbote von Literatur(en), Übersetzungstexte (Sanskrit/Persisch), interkulturelle Musikdarbietungen (Hindu-Türkisch), Technologie (Waffen, Mörser, Kanonen, Raketen, Feuerwerke), Seidenherstellung und -bearbeitung, Kunsthandwerk, Naturkatastrophen, Überlebensstrategien in Hungerzeiten, Alkoholismus und Trinkgelage (Yogis, Sultane), Beschreibung des Halley’schen Kometen (1465), etc. All diese und weitere Schilderungen kaschmirischer Lebenswirklichkeit, fernab von den Klischees der theoretischen Werke, liegen verschüttet. Ihre wissenschaftliche Bergung soll damit beginnen, eine von einer haltbaren Übersetzung begleitete Neuedition herzustellen.


Anmerkungen

1 The Rája Taranginí; A History of Cashmír; Consisting of Four Separate Compilations: ... Commenced under the Auspices of the General Committee of Public. Instruction; transferred to the Asiatic Society; with other unfinished oriental works; and completed in 1835. Calcutta, 1835.
The Rājataraṅgiṇī of Kalhaṇa. Ed. by Durgāprasāda, Son of Vrajalāla. Vol. III. Containing the Supplements to the Work of Jonarāja, Srīvara and Prājyabhaṭṭa. Ed. by P. Peterson. (Bombay Sanskrit Series. LIV). Bombay, 1896.

2 Rājataraṅgiṇī of Jonarāja. Ed. with text comparative and critical annotations and an elaborate introduction by Srikanth Kaul. [Vishveshveranand Inst. Publ. 432 = Woolner Indological Ser. 7]. Hoshiarpur 1967.
Rājataraṅgiṇī of Śrīvara and Śuka. Ed., critically, and annotated with text-comparative data from original manuscripts and other available materials by Srikanth Kaul. [Vishveshvaranand Inst. Publ. 398 = Woolner Indological Ser. 8]. Hoshiarpur, 1966.

3 Alle hier angeführten Beiträge sind in Historiographische Literatur unter Studien bibliographisch erfaßt.

4 Rājatarangini of Jonarāj. Transl., with crit. ... notes in Hindi by Raghunath Singh. [The Jaikrishnadas-Krishnadas Prachyavidya Granthamala. 4.] Varanasi 1972.
Jaina-Rajatarangini of Srivara. Transl. with crit. ... notes in Hindi by Raghunath Singh. Pt. 1.2. [Chaukhamba Amarabharati Granthamala.11.] Varanasi, 1977.


 

 
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